[juF-nds] Übersicht zur aktuellen Rechtsprechung zu den Gesetzesänderungen im AsylbLG
Dörthe Hinz - Flüchtlingsrat Nds.
dh at nds-fluerat.org
Di Feb 25 12:32:56 CET 2020
Weiterleitung von Asyl.net:
Übersicht zur aktuellen Rechtsprechung zu den Gesetzesänderungen
im AsylbLG
25.02.2020
Durch das sogenannte Migrationspaket wurde das
Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) weitreichend geändert. So wurden
zum einen weitere Leistungskürzungen vorgesehen und ein
Leistungsausschluss eingeführt, zum anderen wurde die Leistungshöhe für
alleinstehende Erwachsene bei Gemeinschaftsunterbringung gekürzt, indem
diese in eine niedrigere für Bedarfsgemeinschaften vorgesehene
Bedarfsstufe eingestuft wurden. Über die Rechtmäßigkeit dieser
gesetzlichen Änderungen liegen bereits verschiedene
Gerichtsentscheidungen vor – diese gehen mehrheitlich von der
Verfassungswidrigkeit der Neuregelungen aus.
Leistungskürzungen allgemein
Das LSG Niedersachsen-Bremen stellt mit Entscheidung von Dezember 2019
(M27897 <https://www.asyl.net/rsdb/m27897/>) grundsätzlich infrage, ob
die Leistungskürzungen nach § 1a AsylbLG mit dem Grundrecht auf
Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar sind.
Hierbei bezieht es sich auf die Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts von November 2019 zu Sanktionen für Personen,
die Leistungen nach dem SGB II beziehen (M27819
<https://www.asyl.net/rsdb/m27819/>). Das BVerfG hatte entschieden, dass
die Kürzung von Arbeitslosengeld („ALG-II“) bei Verletzung bestimmter
Mitwirkungspflichten teilweise verfassungswidrig ist. Sozialrechtliche
Sanktionen dürften nur dann verhängt werden, wenn es den Betroffenen
möglich sei, diese durch ihr eigenes Verhalten wieder zu beseitigen, es
dürfe kein Fehlverhalten nachträglich bestraft werden. Unter Bezug auf
diese Argumentation hält das LSG Niedersachsen-Bremen es für nicht
hinreichend geklärt, ob die Leistungskürzungen bei Einreise zum Zweck
des Leistungsbezugs ("Um-zu-Einreise") nach § 1a Abs. 2 AsylbLG
rechtmäßig sind. Es stellt angesichts der BVerfG-Rechtsprechung darüber
hinaus allgemein die Kürzungen nach § 1a AsylbLG in Bezug auf ihre
Verfassungsmäßigkeit in Frage (siehe zum Urteil des BVerfG und dessen
Auswirkungen auf das AsylbLG auch Claudius Voigt, Gesetzlich minimierte
Menschenwürde, Asylmagazin 1-2/2020, S. 12-21
<https://www.asyl.net/asylmagazin/inhalt/>).
Leistungskürzungen bei Dublin-Bescheid und bei Anerkannten
Auch die in § 1a Abs. 7 AsylbLG vorgesehene Anspruchseinschränkung bei
Unzulässigkeitsablehnung wegen Zuständigkeit eines anderen Dublin-Staats
wird in den uns vorliegenden Entscheidungen als rechtswidrig eingestuft.
Das SG Cottbus (M28068) führt unter Bezug auf die oben genannte
Entscheidung des BVerfG aus, aufgrund des Eingriffs in das physische und
soziokulturelle Existenzminimum sei die Vorschrift teleologisch
dahingehend zu reduzieren, dass eine Anspruchseinschränkung stets ein
pflichtwidriges Verhalten der leistungsberechtigten Person voraussetzt.
Die Leistungskürzung des § 1a Abs. 7 AsylbLG knüpfe jedoch nicht an ein
individuelles Fehlverhalten an, sondern sanktioniere allein die
unerwünschte Sekundärmigration innerhalb Europas. Zudem komme eine
Leistungskürzung auch dann nicht in Betracht, wenn die Rückkehr in das
nach der Dublin-VO für das Asylverfahren zuständige Land aus
tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich oder unzumutbar ist.
Dies sei zumindest für eine schwangere Frau in Hinblick auf Griechenland
nicht auszuschließen.
Auch das SG Landshut (M28033 <https://www.asyl.net/rsdb/m28033/>) lehnt
eine Leistungskürzung nach § 1a Abs. 7 AsylbLG ab, wenn kein konkretes
"Fehlverhalten" vorliege. Die bloße Anwesenheit im Bundesgebiet, die
schlichte Nicht-Ausreise sowie die Stellung eines Asylantrags würden ein
solches nicht darstellen und könnten deshalb auch nicht sanktioniert
werden.
Mit ähnlicher Begründung verneint das SG Berlin (M28027
<https://www.asyl.net/rsdb/m28027/>) die gesetzlich vorgesehene
Leistungskürzung bei Personen, denen in einem anderen europäischen Staat
bereits internationaler Schutz zuerkannt wurde. Das Gericht lehnt in
diesen Fällen von sogenannten Anerkannten die Zumutbarkeit der Rückkehr
ab, wenn im schutzzuerkennenden Staat Menschenrechtsverletzungen drohen.
Dies sei bei einer Rückkehr von Schutzberechtigten nach Griechenland
anzunehmen.
Niedrigere Bedarfsstufe für Alleinstehende bei
Gemeinschaftsunterbringung
Durch das Migrationspaket wurden heftig kritisierte Regelungen
eingeführt wonach Alleinstehende, die in einer Gemeinschaftsunterkunft
untergebracht sind, in eine niedrigere Bedarfsstufe eingestuft werden
und somit geringere Leistungen erhalten. Begründet wurde diese
Reduzierung damit, dass die Betroffenen als „Schicksalsgemeinschaft“ die
„Obliegenheit“ hätten gemeinsam zu wirtschaften. Dies ist sowohl bei
Bezug von AsylbLG- Grundleistungen (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 Bst. b AsylbLG)
als auch bei sogenanntem Analogleistungsbezug (§ 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1
AsylbLG) vorgesehen. Die Herabstufung wird von der uns vorliegenden
Rechtsprechung überwiegend für verfassungswidrig gehalten. Auch hier
liege ein Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines
menschenwürdigen Existenzminimum nach Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs.
1 GG vor. Zudem wird ein Verstoß gegen den allgemeinen
Gleichheitsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG angenommen.
Gerichte stützen sich hierbei zum einen auf fehlende empirische
Erkenntnisse zu möglichen „Einspareffekten“ für Bewohner*innen von
Sammelunterkünften, die der Neuregelung zugrunde gelegt wurden. Mit
dieser Begründung gab das SG Landshut (M27766
<https://www.asyl.net/rsdb/m27766/>und M28033
<https://www.asyl.net/rsdb/m28033/>) Eilrechtsanträgen statt. Zudem sei
nicht davon auszugehen, dass nicht miteinander verwandte Personen in
einer Gemeinschaftsunterkunft die Voraussetzungen für die Annahme einer
Bedarfsgemeinschaft erfüllen. Diese Auffassung teilen auch das SG
Freiburg (M28016 <https://www.asyl.net/rsdb/m28016/>), das SG Frankfurt
a.M. (M28040 <https://www.asyl.net/rsdb/m28040/>) sowie das SG Hannover
(M27968 <https://www.asyl.net/rsdb/m27968/>), welche ebenso von einer
Verfassungswidrigkeit der niedrigeren Einstufung ausgehen.
Das SG Freiburg führt zu dem Verstoß gegen den allgemeinen
Gleichheitssatz zudem aus, dass die Unterbringung in Sammelunterkünften
bundesweit nicht einheitlich ausgestaltet sei, sodass die pauschale
Annahme von Synergieeffekten der Vielfalt von Unterbringungsformen keine
Rechnung tragen würde. Auch sei kein sachlicher Grund für die
unterschiedliche Behandlung im Vergleich zu alleinstehenden Personen
erkennbar, die Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII beziehen und die
ebenfalls in einer Gemeinschaftsunterkunft leben. Diesen würden keine
Einspareffekte unterstellt werden, obwohl sie sich in der identischen
Wohnsituation befinden.
Lediglich das SG Berlin (M28022 <https://www.asyl.net/rsdb/m28022/>)
geht zumindest für die Zeit bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens
davon aus, dass geringere Leistungen bei Gemeinschaftsunterbringung
vorläufig hinnehmbar seien. Da es gesetzlich vorgesehen sei, dass
Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums im Einzelfall bei
Mitwirkungspflichtverletzung gekürzt werden könnten, sei die Minderung
des Bedarfssatzes um 10 % bis zur Entscheidung in der Hauptsache
hinzunehmen.
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