[juF-nds] Presseinformation: Ein Jahr nach Reise von Pistorius nach Griechenland: Aufnahmebilanz Niedersachsens ernüchternd
Dörthe Hinz - Flüchtlingsrat Nds.
dh at nds-fluerat.org
Mo Nov 2 08:15:40 CET 2020
02. November 2020, Presseinformation
https://www.nds-fluerat.org/46802/aktuelles/ein-jahr-nach-reise-von-pistorius-nach-griechenland-aufnahmebilanz-niedersachsens-ernuechternd/
Ein Jahr nach Reise von Pistorius nach Griechenland: Aufnahmebilanz
Niedersachsens ernüchternd
Presseinformation, 02. November 2020
Vor genau einem Jahr, vom 30. Oktober bis 2. November 2019,
besuchte Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius
Griechenland und verschaffte sich dabei auch einen Eindruck vom
EU-Hotspot Moria auf Lesbos. Der Innenminister setzt sich zwar
seither mit klaren Worten für die Aufnahme von Schutzsuchenden
und vor allem von Kindern aus Griechenland in Niedersachsen ein.
Die Zwischenbilanz des Flüchtlingsrats Niedersachsen fällt
dennoch ernüchternd aus.
Kai Weber, Geschäftsführer Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V.:
„Der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordert deutlich größere Anstrengungen
der niedersächsischen Landesregierung bei der raschen Umsiedlung von
Geflüchteten aus Griechenland. Die breit getragene Kampagne
#WirHabenPlatz
<https://www.nds-fluerat.org/aktionen/sichererhafen/wir-haben-platz-gefluechtete-minderjaehrige-aus-griechenland-aufnehmen/>
und die Aufnahmebereitschaft von bereits 40 niedersächsischen Kommunen
im Rahmen der Kampagne der SEEBRÜCKE
<https://www.nds-fluerat.org/aktionen/sichererhafen/sichere-haefen-niedersachsen/>
sprechen für sich: Niedersachsen ist solidarisch, Niedersachsen kann
mehr Menschen Schutz bieten und Niedersachsen kann auch viel schneller
handeln!“
Ein Jahr nach der Reise von Minister Pistorius nach Griechenland hat
Niedersachsen aber lediglich 111 Geflüchtete von dort aufgenommen,
darunter 32 unbegleitete Minderjährige, während allein auf den ägäischen
Inseln weiter rund 21.200 geflüchtete Menschen unter
menschenunwürdigsten Bedingungen leben müssen, davon rund 6.100 Kinder
und Jugendliche. Darunter befinden sich auch immer noch rund 300
unbegleitete Minderjährige (sh. UNHCR Griechenland, Aegean Islands
Weekly Snapshot, 26. Oktober 2020
<https://data2.unhcr.org/en/documents/details/82573>). In ganz
Griechenland lebten Ende August 2020 rund 4.600 unbegleitete Kinder und
Jugendliche
<https://www.unhcr.org/news/stories/2020/8/5f07127d4/happiness-faces.html>.
Minister Pistorius hatte sich besonders für diese Personengruppe stark
gemacht. Angesichts der bundesweit freien Kapazitäten von 4.000 Plätzen
allein in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen
<https://b-umf.de/p/wir-haben-mehr-platz-jugendhilfeplaetze-fuer-ca-4000-minderjaehrige-aus-griechenland-verfuegbar/>
ist die bisherige Aufnahmegröße auch in Niedersachsen mehr als dürftig.
Nach dem Brand von Moria im September 2020 bekundete Innenminister
Pistorius, Niedersachsen habe die Kapazitäten, um in einem ersten
Schritt 500 Schutzsuchende aufzunehmen
<https://www.n-tv.de/regionales/niedersachsen-und-bremen/Pistorius-Niedersachsen-koennte-500-Fluechtlinge-aufnehmen-article22036941.html>
und könne anschließend noch mehr Plätze bereitstellen. Praktische und
schnelle Folgen haben solche Angebote allerdings nicht. Dabei haben sich
die Lebensbedingungen in den griechischen Lagern in den letzten 12
Monaten nochmals deutlich verschlechtert. Vor wenigen Tagen erschütterte
nun auch ein Erdbeben die Region. Eine coronagemäße Lebensführung und
der Schutz vor Infektionen sind in den Lagern mit kaum sanitären
Einrichtungen und teils Zelten auf blankem Boden in keiner Weise möglich.
Geschäftsführer Weber:
„Wir erkennen an, dass die Anstrengungen Niedersachsens zur Aufnahme
Schutzsuchender in den vergangenen Wochen deutlich verstärkt wurden.
Aber sie werden der tatsächlichen Notlage tausender Menschen auf
europäischem Boden weiterhin nicht gerecht. Alle Geflüchteten müssen
jetzt von den griechischen Inseln evakuiert werden. Niedersachsen kann
dazu viel mehr beitragen. Es ist gut und wichtig, dass die Aufnahme
Schutzsuchender aus Griechenland am vergangenen Donnerstag auch
ausführlich im Landtag besprochen wurde
<https://www.landtag-niedersachsen.de/parlamentsdokumente/tagesordnungen_ausschuesse/18_wp/afiusp/Einl-091-Si-Go_am_29.10.2020-neu.pdf>.
Es muss auch hier rasch einen von allen demokratischen Fraktionen im
Landtag getragenen Konsens geben: Niedersachsen hat viel Platz und kann
deutlich mehr Menschen aus humanitärer Notlage aufnehmen!“
Kontakt
Kai Weber (Geschäftsführung)
Telefon: 0 511 / 84 87 99 72 | kw(at)nds-fluerat.org
Bilanz der letzten 12 Monate
Seit Jahren prangern Menschenrechtsorganisationen, Zivilgesellschaft,
Geflüchtete selbst und auch immer mehr Kommunen die Zustände in den
Lagern an den europäischen Außengrenzen an. Besonders die katastrophalen
Lebensbedingungen unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter veranlassten
bereits im Herbst 2019 mehrere Organisationen und Verbände, unter dem
Hashtag #WirhabenPlatz die sofortige Aufnahme von Kindern und
Jugendlichen zu fordern
<https://www.nds-fluerat.org/aktionen/sichererhafen/wir-haben-platz-gefluechtete-minderjaehrige-aus-griechenland-aufnehmen/>.
Der Besuch des niedersächsischen Innenministers vor einem Jahr in
Griechenland sorgte mittelbar dafür, dass die Bundesregierung die
katastrophale Lage nicht mehr völlig ignorieren und nicht mehr wie
bisher als notwendiges Mittel europäischer Politik verteidigen konnte.
Doch gerade Niedersachsens Politik blieb trotz aller Bekundungen von
Innenminister Pistorius zurückhaltend. Während Thüringen, Berlin und
Bremen Landesaufnahmeprogramme beschlossen haben und versuchen, diese
gegenüber dem Bundesinnenministerium durchzusetzen, wartet man auf ein
solches Signal aus Niedersachsen vergebens. Dabei liegt im Landtag sogar
ein entsprechender Antrag vor. Auch Niedersachsen muss endlich ein
eigenes Landesaufnahmeprogramm beschließen
<https://www.nds-fluerat.org/43701/aktuelles/fluechtlingsrat-fordert-landesaufnahmeprogramm/>,
um den Druck auf die Bundesregierung weiter zu erhöhen und zu zeigen:
Wir haben Platz und wir wollen aufnehmen!
Als das Bundesinnenministerium nach der Innenministerkonferenz Ende Juni
2020 die Kapazitäten der Bundesländer zur Aufnahme von Schutzsuchenden
abgefragt hat, meldete Nordrhein-Westfalen 500 Plätze zurück und sogar
Bayern 189 Plätze – Niedersachsen bot hingegen bloß 160 Plätze für
Schutzsuchende an
<https://goekay-akbulut.de/wp-content/uploads/Antwort-M%C3%BCndliche-Frage-7-48.pdf>
(Antwort der Bundesregierung v. 21. Juli 2020 auf eine mündliche Anfrage
der Abgeordneten Akbulut).
Nach dem Brand von Moria im September 2020 bekundete Innenminister
Pistorius, Niedersachsen habe die Kapazitäten, um in einem ersten
Schritt 500 Schutzsuchende aufzunehmen
<https://www.n-tv.de/regionales/niedersachsen-und-bremen/Pistorius-Niedersachsen-koennte-500-Fluechtlinge-aufnehmen-article22036941.html>
und könne anschließend noch mehr Plätze bereitstellen. Praktische Folgen
haben solche Angebote allerdings nicht. Es bleibt bei Absichtsbekundungen.
Dabei ist die Aufnahmebereitschaft in Niedersachsen weiterhin enorm:
Bereits 40 niedersächsische Kommunen haben sich zu Sicheren Häfen
erklärt
<https://www.nds-fluerat.org/aktionen/sichererhafen/sichere-haefen-niedersachsen/>
und ihre Bereitschaft bekundet, mehr Schutzsuchende aufzunehmen, als sie
nach dem regulären Verteilungsschlüssel aufnehmen müssten. Im Juni 2020
haben über 130 niedersächsische Organisationen, Vereine und Initiativen
sowie mehrere Bürgermeister_innen, Oberbürgermeister_innen und
Landrät_innen die Landesregierung in einem Offenen Brief
<https://www.nds-fluerat.org/aktionen/sichererhafen/offener-brief/>aufgefordert,
auch Niedersachsen zum Sicheren Hafen zu erklären und ihre Möglichkeiten
zu nutzen, um die zusätzliche Aufnahme von Menschen auf der Flucht zu
ermöglichen.
Auch die Stimmen aus den Kommunen werden lauter: Die Oberbürgermeister
Belit Onay (Hannover) und Klaus Mohrs (Wolfsburg) haben in einer
gemeinsamen Videobotschaft
<https://www.nds-fluerat.org/46610/aktuelles/oberbuergermeister_innen-evakuierung-von-moria-jetzt/>
mit 24 weiteren Oberbürgermeister_innen die Evakuierung von Moria
gefordert. Aus Hameln
<https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/hannover_weser-leinegebiet/Hameln-will-Fluechtlingsfamilien-aus-Moria-aufnehmen,aktuellhannover6610.html>,
Osnabrück
<https://www.osnabrueck.de/start/leitartikel/news/friedensstadt-osnabrueck-moechte-fluechtlingen-aus-moria-helfen/>,
der Stadt und dem Landkreis Göttingen
<https://www.goettinger-tageblatt.de/Die-Region/Goettingen/Appelle-aus-der-Politik-Stadt-und-Landkreis-Goettingen-sollen-Fluechtlinge-aus-Moria-aufnehmen>,
Braunschweig
<https://www.braunschweiger-zeitung.de/braunschweig/article230395190/Braunschweig-und-Wolfsburg-wollen-Moria-Fluechtlinge-aufnehmen.html>,
Cuxhaven <https://twitter.com/UweSantjer/status/1304092308028166145> und
vielen weiteren Kommunen kamen Bekundungen, Menschen aus den Lagern auf
den griechischen Inseln aufzunehmen. Gefragt ist nun endlich ein
entschiedeneres Handeln der Landesregierung.
Am vergangenen Donnerstag beriet der Innenausschuss des Landtages über
die weitere Aufnahme von Schutzsuchenden aus Griechenland.
<https://www.landtag-niedersachsen.de/parlamentsdokumente/tagesordnungen_ausschuesse/18_wp/afiusp/Einl-091-Si-Go_am_29.10.2020-neu.pdf>
Bundespolitik
Im März 2020 rang sich die Bundesregierung zu dem Beschluss durch,
zumindest 1.000 bis 1.500 Kinder aus den Hotspots auf den griechischen
Inseln zu evakuieren. Angesichts der bundesweit freien Kapazitäten von
4.000 Plätzen allein in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen
<https://b-umf.de/p/wir-haben-mehr-platz-jugendhilfeplaetze-fuer-ca-4000-minderjaehrige-aus-griechenland-verfuegbar/>
ist dies eine dürftige Zahl.
Die Gesamtbilanz seither ist ernüchternd: Seit Frühjahr 2020 hat
Deutschland über drei Kontingente lediglich 1.075 Menschen aus
Griechenland aufgenommen.
<https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/pressemitteilungen/DE/2020/10/kinder-grc-20201029.html>
In Niedersachsen blieben hiervon nur 111 Schutzsuchende.
Über Zwanzigtausend Menschen müssen aber noch immer in den Hotspots auf
den griechischen Inseln ausharren
<https://data2.unhcr.org/en/documents/details/82573>. Zwar ist die Zahl
der Menschen in Moria auf knapp 8.000 gesunken, seit das Camp
niedergebrannt und ein neues, noch schlimmeres errichtet wurde. Die
griechische Regierung hat aber Tausende auf das griechische Festland
gebracht und sie dort weitgehend sich selbst überlassen – ohne
angemessene Versorgung, Unterkunft oder Zugang zum Gesundheitssystem
<https://www.proasyl.de/news/griechenland-selbst-anerkannten-fluechtlingen-droht-verelendung/>.
Zugleich hat die EU-Kommission Pläne für einen „Migrationspakt“
vorgestellt
<https://www.nds-fluerat.org/46530/aktuelles/grenzverfahren-unter-haftbedingungen-die-zukunft-des-europaeischen-asylsystems/>,
mit dem Elendslager wie Moria zu Dauerlösungen werden sollen: Hier
sollen dann sogar perspektivisch nahezu alle Asylverfahren durchgeführt
werden, während gleichzeitig die EU-Grenzen mit immer schärferen
Maßnahmen (und mit immer mehr Gewalt) gegenüber Schutzsuchenden
abgeschottet werden. Erdacht worden sind diese Pläne insbesondere im
Bundesinnenministerium.
Doch statt die Not von Menschen auf der Flucht immer weiter zu
verschärfen, muss diese auf Abschreckung und Abschottung setzende
Politik endlich aufhören. Notwendig sind jetzt:
1. Sofortige Evakuierung aller Menschen aus den Lagern auf den
griechischen Inseln in aufnahmebereite europäische Staaten und
Kommunen. Allein in Niedersachsen haben sich 40 Städte, Gemeinden
und Landkreise zu Sicheren Häfen erklärt
<https://www.nds-fluerat.org/aktionen/sichererhafen/sichere-haefen-niedersachsen/>
und damit ihre sofortige Aufnahmebereitschaft bekundet.
2. Schließung aller Lager an den europäischen Außengrenzen
3. Ende der Abschottungspolitik
Mehr
Flüchtlingsrat Niedersachsen fordert Landesaufnahmeprogramm
<https://www.nds-fluerat.org/43701/aktuelles/fluechtlingsrat-fordert-landesaufnahmeprogramm/>,
Meldung vom 18. Mai 2020
Kampagne #WirhabenPlatz
<https://www.nds-fluerat.org/aktionen/sichererhafen/wir-haben-platz-gefluechtete-minderjaehrige-aus-griechenland-aufnehmen/>
Übersichtsseite Sichere Häfen in Niedersachsen
<https://www.nds-fluerat.org/aktionen/sichererhafen/sichere-haefen-niedersachsen/>
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