[juF-nds] VGH Baden-Württemberg untersagt Abschiebungen nach Afghanistan

Dörthe Hinz - Flüchtlingsrat Nds. dh at nds-fluerat.org
Do Feb 4 08:43:28 CET 2021



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Pressemitteilung des VGH Baden-Württemberg, 3.2.2021


Asyl Afghanistan: Abschiebungsverbot für alleinstehende gesunde Männer im
arbeitsfähigen Alter ohne soziales oder familiäres Netzwerk und ohne 
Vorliegen
sonstiger begünstigender Umstände

Datum: 03.02.2021

Kurzbeschreibung: Derzeit darf auch ein alleinstehender, gesunder und
arbeitsfähiger, erwachsener Mann regelmäßig nicht nach Afghanistan 
abgeschoben
werden, weil es ihm dort angesichts der gravierenden Verschlechterung der
wirtschaftlichen Rahmenbedingungen infolge der COVID-19-Pandemie 
voraussichtlich
nicht gelingen wird, auf legalem Wege seine elementarsten Bedürfnisse nach
Nahrung, Unterkunft und Hygiene zu befriedigen. Anderes gilt dann, wenn in
seiner Person besondere begünstigende Umstände vorliegen. Dies kann etwa der
Fall sein, wenn der Rückkehrer in Afghanistan ein hinreichend 
tragfähiges und
erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er nachhaltige 
finanzielle
oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes
Vermögen verfügt. Das hat der 11. Senat des Verwaltungsgerichtshofs
Baden-Württemberg mit einem jetzt zugestellten Urteil vom 17. Dezember 2020
entschieden. Damit hat die Klage eines Asylbewerbers in der Berufungsinstanz
insoweit Erfolg, als es um die Feststellung eines nationalen 
Abschiebungsverbots
in Bezug auf Afghanistan geht.


Der aus Afghanistan stammende Kläger war im Frühjahr 2016 ins Bundesgebiet
eingereist und hatte hier einen Asylantrag gestellt. Seine gegen den 
ablehnenden
Asylbescheid erhobene Klage hatte das Verwaltungsgericht Sigmaringen 
abgewiesen.
Im hierauf durchgeführten Berufungsverfahren ging es allein um die 
Frage, ob der
Kläger nach Afghanistan abgeschoben werden darf oder ob für ihn ein
Abschiebungsverbot besteht.



Der 11. Senat des Verwaltungsgerichtshofs hat im Berufungsverfahren in einer
mehrstündigen mündlichen Verhandlung eine Sachverständige zu den 
Auswirkungen
der COVID-19-Pandemie auf die Lebensbedingungen in Afghanistan, 
insbesondere in
der Hauptstadt Kabul, befragt. Hierzu hatte die Sachverständige dem 
Senat zuvor
bereits ein schriftliches Gutachten vorgelegt.



In seinem auf die mündliche Verhandlung ergangenen Urteil hält der 11. Senat
zumindest vorerst nicht mehr an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, 
wonach
einem leistungsfähigen, erwachsenen Mann - unabhängig davon, ob er vor 
Ort über
ein aufnahmebereites und tragfähiges, familiäres oder soziales Netzwerk 
verfügt
- in Afghanistan in der Regel nicht die Verelendung droht. Nach 
Würdigung der
Ausführungen der Sachverständigen und Auswertung einer Vielzahl von
Erkenntnismitteln ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass sich 
inzwischen
die wirtschaftliche Lage in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie derart
verschlechtert hat, dass ein Rückkehrer aus dem westlichen Ausland keine
realistische Aussicht hat, auf dem Tagelöhnermarkt eine Arbeit zu 
finden, sofern
er nicht vor Ort über ein familiäres oder soziales Netzwerk verfügt, das ihm
Zugang zum Arbeitsmarkt verschafft. Ohne die Erzielung eines 
Erwerbseinkommens
und ohne versorgendes Netzwerk oder ausreichendes Vermögen ist die 
Sicherung der
eigenen Existenz in Afghanistan indes nicht möglich. Unter 
Berücksichtigung der
individuellen Situation des Klägers ist der Senat nach diesen Maßstäben 
zu der
Überzeugung gelangt, dass in seinem Fall ein Abschiebungsverbot 
festzustellen ist.



Die Revision zum Bundesverwaltungsgericht wurde nicht zugelassen. Die
Nichtzulassung der Revision kann innerhalb eines Monats nach Zustellung des
schriftlichen Urteils durch Beschwerde zum Bundesverwaltungsgericht in 
Leipzig
angefochten werden (Az. A 11 S 2042/20).



Hinweis:

Das ebenfalls am 15. Dezember 2020 verhandelte Verfahren eines weiteren 
Klägers
(A 11 S 2091/20) ist bereits durch Einstellungsbeschluss vom 18. 
Dezember 2020
erledigt, nachdem die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache
übereinstimmend für erledigt erklärt haben.


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