[juF-nds] Rechtsprechungsübersicht: Welcher Schutzstatus ist bei Entziehung vom Nationaldienst in Eritrea zu gewähren?
Dörthe Hinz - Flüchtlingsrat Nds.
dh at nds-fluerat.org
Do Jun 27 12:08:58 CEST 2019
Liebe Interessierte,
Weiterleitung einer hilfreichen Rechtsprechungsübersicht vom
Informationsverbund Asyl & Migration
https://www.asyl.net/view/detail/News/rechtsprechungsuebersicht-welcher-schutzstatus-ist-bei-entziehung-vom-nationaldienst-in-eritrea-zu-g/
In der Entscheidungsdatenbank von Asyl.net lassen sich zudem viele
weitere Rechtsprechungen zu weiteren Herkunftsländern und
Rechtsbereichen/-fragen finden:
https://www.asyl.net/recht/entscheidungsdatenbank/
Rechtsprechungsübersicht: Welcher Schutzstatus ist bei Entziehung
vom Nationaldienst in Eritrea zu gewähren?
21.06.2019
Asylsuchenden aus Eritrea wird, seitdem sich die
BAMF-Entscheidungspraxis hierzu geändert hat, häufig nur noch
subsidiärer Schutz statt Flüchtlingsschutz zuerkannt. Eine in diesen
Fällen häufig diskutierte Frage ist, welcher Schutzstatus Personen zu
gewähren ist, die sich dem Nationaldienst durch Flucht entzogen haben.
Die Gerichte hatten Betroffenen in solchen Fällen vielfach
Flüchtlingsschutz zugesprochen, inzwischen wird aber vermehrt abgelehnt,
dass die drohende Verfolgung flüchtlingsrelevant sei.
Seit einer Änderung der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration
und Flüchtlinge (BAMF) im Jahr 2016 wird Asylsuchenden aus Eritrea
häufig nur noch subsidiärer Schutz statt Flüchtlingsschutz zuerkannt
(siehe ProAsyl Meldung vom 14.9.2016
<https://www.proasyl.de/news/immer-weniger-fluechtlingsschutz-fuer-menschen-aus-syrien-irak-eritrea-afghanistan/>).
Eine wichtige Rolle kommt dabei der Rechtsfrage zu, welcher Schutzstatus
Männern und Frauen zu gewähren ist, die sich durch ihre Flucht dem
eritreischen Militärdienst („national service“) entzogen haben. Der
eritreische Nationaldienst ist seit 2002 zeitlich unbefristet und trifft
Frauen und Männer gleichermaßen. Während der Ableistung des
Nationaldienstes sind Folter, Willkür, Misshandlungen und
lebensbedrohliche Haftbedingungen laut verschiedenen Länderberichten an
der Tagesordnung (siehe z.B. die Zusammenstellung von Berichten bei UK
Home Office, Country Policy and Information Note Eritrea: National
service and illegal exit, Juli 2018, ecoi.net 1438573
<https://www.ecoi.net/de/dokument/1447945.html>, S. 24f.).
*BAMF gewährt überwiegend nur noch subsidiären Schutz*
Die Asylstatistiken des BAMF belegen, dass die Zuerkennung des
Flüchtlingsschutzes für Personen aus Eritrea zurückgegangen und die
Gewährung subsidiären Schutzes angestiegen ist. Wurde im Jahr 2015 noch
in 88,2% der vom BAMF entschiedenen Fälle eritreischer Erst- und
Folgeantragsstellender Asyl oder Flüchtlingsschutz gewährt, so waren es
im Jahr 2016 nur noch 75,2% und im Jahr 2017 lediglich noch 46%. Die
Zuerkennungsquote hinsichtlich subsidiären Schutzes stieg hingegen von
3,4% im Jahr 2015 auf 16,5% im Jahr 2016 und 33,5% im Jahr 2017. Im Jahr
2018 überstieg erstmalig die Zahl der Zuerkennungen subsidiären Schutzes
mit 37,1% die Quote der Asyl oder Flüchtlingsanerkennungen mit nur noch
29,4% (zu den Statistiken siehe jeweilige Jahres-Übersicht des BAMF bei
ProAsyl
<https://www.proasyl.de/thema/fakten-zahlen-argumente/statistiken/>).
Hintergrund dieser Entwicklung ist die Neubewertung der Frage, ob bei
unerlaubter Ausreise und damit verbundener Nationaldienstentziehung der
eritreische Staat den Betroffenen eine oppositionelle politische Haltung
unterstellt. Wurde dies im Rahmen der früheren Entscheidungspraxis des
BAMF noch angenommen, wird nun ähnlich wie bei Asylsuchenden aus Syrien
(siehe asyl.net Meldung vom 16.4.2019
<https://www.asyl.net/view/rechtsprechung-syrien-wehrdienst/>) vermehrt
davon ausgegangen, dass es an der erforderlichen Verknüpfung zwischen
Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund gem. § 3a Abs. 3 AsylG fehle,
da der eritreische Staat Betroffenen allein aufgrund des unerlaubten
Verlassens Eritreas und der damit verbundenen Entziehung vom
Nationaldienst keine oppositionelle politische Haltung mehr unterstelle.
Die bei einer Rückkehr drohenden Bestrafungen durch den eritreischen
Staat würden nur der Durchsetzung einer alle Staatsangehörigen
gleichermaßen treffenden Pflicht dienen. Zudem bestehe die Möglichkeit,
dass im Exil lebende Personen nach Entrichtung einer "Aufbausteuer"
(auch „Diaspora-Steuer“ genannt) und nach Abgabe eines Reuebekenntnisses
unbehelligt nach Eritrea reisen könnten. Auch dies spreche gegen die
Annahme, dass der eritreische Staat allen Personen, die sich dem
Nationaldienst entziehen, die Regimegegnerschaft unterstelle.
Die Änderung der Leitsätze zu Eritrea, die für BAMF-Entscheidungen
herangezogen werden, soll nach Auskunft der Bundesregierung unter
„Hinzuziehung einer Vielzahl von nationalen und internationalen Quellen
(etwa Berichten des Auswärtigen Amts, des Europäischen
Asylunterstützungsbüros EASO, anderer Migrationsbehörden,
UN-Organisationen, NGOs, Rechtsprechung etc.)" erfolgt sein (Drucksache
19/9806, Punkt 27
<http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/098/1909806.pdf>). Demgegenüber
weisen Nichtregierungsorganisationen aber darauf hin, dass die genannten
Quellen nicht den Schluss zulassen, dass sich die Menschenrechtslage in
Eritrea substanziell geändert habe (siehe ProAsyl Meldung vom 16.5.2018:
https://www.proasyl.de/news/eritrea-ein-land-im-griff-einer-diktatur/).
Die Änderung der Leitsätze wurde deshalb auch vielfach als politisch
motiviert kritisiert und damit in Verbindung gebracht, dass der
Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten praktisch zeitgleich mit
der Änderung der Entscheidungspraxis eingeschränkt wurde (siehe PM von
MdB Ulla Jelpke vom 18.8.2017
<http://www.ulla-jelpke.de/2017/08/familiennachzug-fuer-eritreische-fluechtlinge-wird-mit-miesen-tricks-behindert/>).
*Gerichte sprechen vermehrt nur noch subsidiären Schutz zu*
Auch die Gerichte gehen jedoch mittlerweile vermehrt davon aus, dass in
den oben genannten Fällen die Voraussetzungen für das Vorliegen der
Flüchtlingseigenschaft nicht gegeben sind. Im Laufe des Jahres 2017
zeigte sich bei den Verwaltungsgerichten in den uns vorliegenden
Entscheidungen ein Wandel in der Rechtsprechung. Bis dahin hatten
Gerichte mehrheitlich noch die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, da sie
davon ausgingen, dass die Bestrafung wegen Entziehung vom Nationaldienst
durch den eritreischen Staat der Verfolgung wegen vermeintlicher
Regimegegnerschaft diene. Die Möglichkeit eine Diaspora-Steuer zu zahlen
und eine Entschuldigungserklärung abzugeben ändere nichts an der
Bedrohung durch Verfolgungsmaßnahmen. In diesem Sinne entschieden etwa
das VG Schwerin (M24719 <https://www.asyl.net/rsdb/m24719/>), VG Hamburg
(M24991 <https://www.asyl.net/rsdb/m24991/>), VG Sigmaringen (M25404
<https://www.asyl.net/rsdb/m25404/>) und das VG Halle (M25600
<https://www.asyl.net/rsdb/m25600/>).
Inzwischen entscheiden jedoch die Gerichte auf erstinstanzlicher Ebene
vermehrt negativ: So lehnen das VG Halle (in Abkehr von seiner
bisherigen Rechtsprechung: M26726 <https://www.asyl.net/rsdb/m26726/>),
das VG Stuttgart (M26022 <https://www.asyl.net/rsdb/m26022/>) und das VG
Düsseldorf (M25708 <https://www.asyl.net/rsdb/m25708/>), das VG
Schleswig-Holstein (M26023 <https://www.asyl.net/rsdb/m26023/>), das VG
Köln (M26152 <https://www.asyl.net/rsdb/m26152/>), das VG Trier (M25506
<https://www.asyl.net/rsdb/m25506/>) sowie das VG Regensburg (M24582
<https://www.asyl.net/rsdb/m24582/>) die Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft unter Bezugnahme auf die oben genannte Begründung
des BAMF ab.
Auch in zwei uns vorliegenden obergerichtlichen Entscheidungen des OVG
Saarland (M27116 <https://www.asyl.net/rsdb/m27116/>) und des OVG
Hamburg (M26819 <https://www.asyl.net/rsdb/m26819/>) wird die
Flüchtlingsanerkennung mit der oben skizzierten Begründung jeweils
abgelehnt. Eine Entscheidung des VGH Bayern hierzu steht noch aus. Die
Berufung wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung der Frage zugelassen (VGH
Bayern, Beschluss vom 02.7.2018 – 20 ZB 18.30004 – juris).
Eine höchstrichterliche Entscheidung zu der Frage, ob es an der
erforderlichen Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung (Bestrafung
wegen Wehrdienstentziehung) und dem Verfolgungsgrund (unterstellte
oppositionelle Haltung) fehlt, gibt es bisher nicht. Das dahingehend oft
missverstandene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. April 2018
(M26300 <https://www.asyl.net/rsdb/m26300/>) traf keine
materiell-rechtliche Entscheidung über diese Frage, sondern stellt
lediglich fest, dass die Vorinstanz revisionsrechtlich beanstandungsfrei
zu diesem Schluss gekommen sei.
Einige Gerichte gehen aber auch weiterhin von einer
flüchtlingsrelevanten Verfolgung bei Entziehung vom Nationaldienst aus.
So etwa das VG Schwerin (M24719 <https://www.asyl.net/rsdb/m24719/>).
Auch das VG Sigmaringen (M25404 <https://www.asyl.net/rsdb/m25404/>)
nimmt bei Personen, die sich entweder in oder kurz vor dem Alter
befinden, bei dem in der Regel die Einziehung zum Nationaldienst
bevorsteht, das Vorliegen der Flüchtlingseigenschaft an. Das VG Cottbus
(M27274 <https://www.asyl.net/rsdb/m27274/>) geht gleichfalls von einer
Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund aus und
spricht daher die Flüchtlingseigenschaft zu, wenn es vor der Ausreise
einen konkreten Rekrutierungsversuch durch den eritreischen Staat
gegeben hat. Das VG Hamburg (M27305 <https://www.asyl.net/rsdb/m27305/>)
geht bei Angehörigen von desertierten Nationaldienstpflichtigen von
einem erhöhten Risiko der Inhaftierung und Einziehung in den
Nationaldienst aus. Eine solche Sippenhaft sei insbesondere bei Personen
aus grenznahen Gebieten verbreitet.
*Verfolgung von Frauen im Nationaldienst flüchtlingsrelevant*
Frauen sind laut verschiedenen Länderberichten im Nationaldienst einem
massiven Risiko sexueller Gewalt durch ihnen militärisch vorgesetzte
Personen ausgesetzt (siehe etwa US Department of State, Country Report
on Human Rights Practices 2017, 20. April 2018, ecoi.net 1430113
<https://www.ecoi.net/de/dokument/1447945.html>; Amnesty International
Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Eritrea, 22.
Februar 2018, ecoi.net 1444205
<https://www.ecoi.net/de/dokument/1444205.html>). Deshalb wird ihnen
häufiger als Männern die Flüchtlingseigenschaft wegen
geschlechtsspezifischer Verfolgung zugesprochen. Doch auch hier
entscheiden die Gerichte unterschiedlich. Zunächst spielt dabei eine
Rolle, ob und wann Frauen von der Ableistung des Nationaldienstes
befreit werden. Dies kann für verheiratete Frauen, Mütter oder
Schwangere gelten, die Erkenntnismittel zeichnen hierzu jedoch kein
einheitliches Bild. Das VG Hamburg nimmt in der oben genannten
Entscheidung (M27305 <https://www.asyl.net/rsdb/m27305/>) an, dass
Frauen, die lediglich kirchlich verheiratet oder verlobt seien, nicht
vom Nationaldienst befreit werden und ihnen eine Verfolgung drohe. Das
OVG Hamburg (M26819 <https://www.asyl.net/rsdb/m26819/>) verneint die
Verfolgung einer Frau mit Kleinkind, da diese aufgrund ihres Kindes
allenfalls im zivilen Teil des Nationaldienstes eingesetzt würde,
sexuelle Gewalt gegen Frauen jedoch nur im militärischen Teil drohe.
Gerichte entscheiden auch uneinheitlich darüber, ob Frauen im
eritreischen Nationaldienst eine soziale Gruppe bilden. Das VG Köln
(M27300 <https://www.asyl.net/rsdb/m27300/>) lehnt eine Verfolgung von
Frauen wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe im
Nationaldienst mit der rechtlich fragwürdigen Begründung ab, auch
geschlechtsspezifische Verfolgung müsse primär politisch sein, der
eritreische Staat ordne sexuelle Gewalt gegenüber Frauen jedoch nicht
gezielt an. Dies entspricht der älteren Rechtsprechung zum
Asylgrundrecht, nach der Verfolgung insbesondere aus politischen Gründen
vorausgesetzt und die Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer sozialen
Gruppe nicht anerkannt wurde. Dementsprechend treten das VG Schwerin
(M27301 <https://www.asyl.net/rsdb/m27301/>), das VG Hamburg (M27305
<https://www.asyl.net/rsdb/m27305/>) sowie das VG Arnsberg (M27306
<https://www.asyl.net/rsdb/m27306/>) der Entscheidung des VG Köln
ausdrücklich entgegen. Dem klaren Wortlaut des § 3 Abs. 1 S. 2 i.V.m. §
3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG entsprechend sei bei geschlechtsspezifischer
Verfolgung kein zusätzliches politisches Motiv für die Annahme einer
flüchtlingsrelevanten Verfolgung erforderlich. Das VG Schwerin verweist
darüber hinaus darauf, dass Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung
ohnehin immer eine politische Überzeugung zugrunde liege, da durch sie
der unterprivilegierte Status von Frauen in patriarchalisch
totalitär-theokratischen Systemen manifestiert werde. Dies sei im
totalitären Eritrea der Fall, da dort sexuelle Gewalt gegen Frauen weit
verbreitet sei und nicht verfolgt werde. Sexuelle Übergriffe geschähen
so häufig, dass nicht von einem sogenannten Amtswalterexzess durch
vereinzelte und spontane Vorgänge gesprochen werden könne.
Somit bleibt die Rechtsprechung hinsichtlich der Frage, welcher
Schutzstatus Männern und Frauen zu gewähren ist, die sich durch ihre
Flucht aus Eritrea dem Nationaldienst entzogen haben, uneinheitlich.
Gerichte scheinen aber vermehrt zu der Auffassung zu gelangen, dass
keine Verfolgung angenommen werden kann, die zur Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft führt. Beim Hinzutreten weiterer Elemente, wie
etwa zuvor bereits erfolgter konkreter Rekrutierungsversuche oder der
besonderen Situation von Frauen, denen geschlechtsspezifische Verfolgung
droht, gehen die Gerichte aber überwiegend weiterhin von einem Anspruch
auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus.
--
Dörthe Hinz
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